Ein Wettlauf mit der Zeit
Wer hätte das gedacht: Am 13. März befanden wir uns noch in San Carlos de Bariloche, der «argentinischen Schweiz» nahe der chilenischen Grenze. Da sah unser Plan noch vor, den Norden von Chile und Argentinien zu bereisen bis zur geplanten Rückkehr am 26 Mai, in der Meinung, wir könnten mit der entsprechenden Hygiene eine Ansteckung vermeiden, insbesondere wenn wir (wie bisher) Städte eher meiden und weil eh die tourismusärmere Jahreszeit bevorsteht. Dabei waren wir uns bewusst, dass die Gesundheitssysteme in Argentinien und Chile «schwach» sind und sich ein Grossteil der Menschen überhaupt keinen Arztbesuch oder Spitalpflege leisten kann. Aber wir waren überzeugt, dass wir gesundbleiben werden. Und nun, Freitagnacht, 20. März, sind wir mit dem allerletzten regulären Flug aus Paris in Zürich gelandet. Welch verrückte Zeit! Doch nun mal der Reihe nach:
Nach den wunderbaren Treckings zu den Lagunen vor Cerro Torres und Fitzroy machten wir uns auf zum Parque Nacional Perito Moreno (nicht zu verwechseln mit dem Perito Moreno Gletscher) wegen der vielen schönen Wandermöglichkeiten. Doch das Wetter machte uns einen dicken Strich durch die Rechnung: Sturm und Regen trieben uns weiter in den Norden über den zauberhaften Paso Rodolfo Roballo. Leider besserte sich das Wetter nicht. Beim Grenzübertritt nach Chile goss es «horizontal». Und zum ersten Mal gab es dort Fragen bezüglich Corona. Der Virus war also in Chile mindestens bei den Behörden angekommen.
Leider schafften wir es an jenem Tag wegen der Dunkelheit und der schlechten Sicht nicht, den offiziellen Campingplatz des Parks zu erreichen und so übernachteten wir auf einem Parkplatz. Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass wir nur wenige Meter vom Camping entfernt waren… und dass sich der Herbst ankündigt. Die umliegenden Bergkämme waren verschneit. Für das Frühstück fuhren wir erwartungsvoll ins nächstgelegene Dorf Cochrane. Aber oha lätz: Die Restaurants und Cafés waren auch um 9 Uhr noch nicht geöffnet. Offensichtlich befinden wir uns schon in der Nebensaison.
Hatten wir ab und zu mal Internetzugang, empfingen wir Hiobsbotschaften im Multipack von zu Hause bezüglich Corona. Aber hier war davon nichts zu hören und zu spüren. Und so besuchten wir die Cuevas de Marmol in Puerto Rio Tranquilo erneut. Auch die wollten wir Sophia nicht vorenthalten. Dieses Mal bei morgendlichem Sonnenstand und mit fühlbar weniger Touris. Bei wunderbarem Wetter und ruhigem See war der Ausflug ein Genuss.
Zum Dritten und wahrscheinlich das letzte Mal durchquerten wir Coyhaique. Dort übersahen wir einen der vielen tempobeschränkenden «Bumps» und fuhren viel zu schnell darüber. Rubi bäumte sich auf wie ein Pferd über die Hürde und flog förmlich über das Hindernis. Erst die Landung war schmerzlich: Die Kabine quetschte den Auspuffschnorchel. Der Schaden war zwar auf südamerikanische Art mit schwarzem Isolierband bald behoben – zurück blieb ein kleiner Schock. Aber der hinderte uns nicht an der Weiterfahrt nach Norden zum Hängegletscher im Parque Nacional Quelat bei Puyuhuapi. Das Camping im Park selbst war wunderbar romantisch und verwöhnte uns sogar mit einer Warmwasserdusche. Am Abend reichte es noch für einen Spaziergang zum Lago bevor der Regen einsetzte. Am nächsten Morgen machten wir uns dann bei Nieselregen und tiefliegenden Wolken auf zum Gletscher. Oben angekommen war davon nichts zu sehen. Er war versteckt in den Wolken. Nass von innen und aussen erreichten wir Rubi und fuhren zu den nahestehenden Thermen Ventisquero mit den ungedeckten heissen Becken und einer Treppe ins Meer. Die Abkühlung nach dem heissen Bad war eine echte Herausforderung. Aber wir haben sie alle gemeistert!
Trotz weiterer Hiobsbotschaften aus Europa war hier noch immer nichts zu hören vom Virus. Und so überquerten wir am Freitag, 13.3. problemlos wieder die Grenze nach Argentinien, wo ausser einem Abstandhalter vor dem Schalter noch keine Veränderung spürbar war.
Am nächsten Morgen erhielt Rubi eine weitere Schramme: Als wir an der Ausfahrt einer Tankstelle vorbeifuhren, kam ein Auto aus der Tankstelle geschossen und erwischte uns seitlich schräg bei der Treppe. Für einen Moment befürchteten wir, dass der Fahrer abhauen will, doch dann hielt er an und erkundigte sich nach unserem Schaden. Rubi erwies sich dabei als seeeehr robust. Der Aufschlag sprengte nur einen Gummibolzen der Treppe weg und verursachte eine kleine Delle. Doch sie funktioniert einwandfrei. Der Argentinier half uns, den Gummibolzen zu finden, und dank Hammer ist sie wieder geflickt. Beim Argentinier sah das anders aus: seine ganze vordere rechte Seite war komplett weggerissen. Diese Reparatur dürfte teuer werden.
Mittlerweile verwöhnte uns die Sonne wieder ein wenig und so konnten wir vor der Weiterfahrt in den Norden die wunderschöne Landschaft beim Lago Puelo mit einem Spaziergang zur Aussichtsplattform und einem Picknick am Strand geniessen und den Schock ein wenig «verdauen».
Und dann begann Corona auch für uns spürbar zu werden. Wir waren in San Carlos de Bariloche, als wir vernahmen, dass Flüge aus Europa verboten werden. In diesem Moment beschlossen wir, Sophia sofort nach Santiago zu bringen, ihren Flug vorzuverschieben, danach nach Uruguay zu fahren, Rubi wie geplant im Camping Paraiso Suizo östlich von Montevideo zu «überwintern» und danach von Montevideo heimzufliegen. Wir glaubten, dass wir die dafür nötigen 10 Tage Zeit hätten. Dies war am Samstag, 14. März.
So machten wir am Sonntag, 15. März eine «Sightseeingtour» durch die traumhafte Gegend der 7-Seen nach San Martin de los Andes. Zu unserem Erstaunen prüfte der Campingchef unsere Pässe, ob wir uns tatsächlich schon länger als 2 Wochen im Land befinden. Dies versetzte uns in den Alarmzustand und liess uns erahnen, welche Auswirkungen das Virus auf den Alltag haben könnte. Für uns wurde klar, so schnell wie möglich nach Hause! Am Montag, 16. März im Morgengrauen brachen wir auf Richtung Buenos Aires, in der Hoffnung, die Grenze nach Uruguay noch überqueren zu können.
Während der Fahrt buchte die Familie zu Hause unsere bestehenden Flüge entsprechend um. Wer fährt, braucht Diesel und möchte ab und zu eine Toilette benutzen und die gibt es glücklicherweise bei jeder Tankstelle. Zu unserem Entsetzen mussten wir für die Benutzung der Toilette unsere Pässe vorlegen als Beweis, dass wir schon mehr als 2 Wochen im Land sind!!! Als Tourist war man von einem Moment auf den anderen nicht mehr willkommen, sondern eine Bedrohung mit allen Konsequenzen: Diskriminierung und Ausgrenzung.
Nach kaum Schlaf hörten wir am Dienstag früh, 17.3., dass die Grenze zu Uruguay um Mitternacht geschlossen werden soll – und 900 Km lagen noch vor uns. Von da an waren wir auf der Flucht, auf teilweise sehr schlechten Strassen mit vielen Löchern und das bei Dauerregen. 14 Stunden später – um 20Uhr – standen wir beim Grenzposten. Doch die Grenzbeamten spielten Karten und sagten, es gäbe seit vergangener Mitternacht kein Durchkommen mehr. Wir mussten schmerzhaft lernen, dass hier in Südamerika «Schliessung am 17.3. um Mitternacht» 17.3. um 00.00 bedeutet. Wir waren also ganze 20 Stunden zu spät. Sie rieten uns, wir sollten es doch über die Grenze nach Brasilien und danach weiter nach Uruguay versuchen, was weitere zusätzliche 700 Km bedeuten würde…
Völlig erschöpft und verzweifelt und trotz wenig Hoffnung, den Flug in Montevideo noch zu erwischen, nahmen wir die 700Km sofort unter die Räder – nun bei völliger Dunkelheit und noch immer Dauerregen. Nach 2 Stunden Fahrt gegen Norden mussten wir aus Sicherheitsgründen eine Schlafpause einlegen. Zum Glück waren wir noch nicht weiter im Norden, denn am Mittwoch, 18.3. bei Tagesanbruch, wurde uns klar, dass Uruguay auch die Grenze nach Brasilien geschlossen hat und unser Plan somit wertlos geworden ist. So fuhren wir wieder nach Süden, zurück Richtung Buenos Aires, auf der Suche nach einem richtigen Frühstück und einem guten Wifi, um die nächsten Schritte evaluieren zu können. Von da an ging es schnell: von unterwegs aus organisierten wir die «Überwinterung» von Rubi auf dem Privatgrundstück von Vivi, unserer Tangolehrerin, liessen die Flüge am Flugplatz Buenos Aires umbuchen (was unglaublich unbürokratisch und ohne Zusatzkosten möglich war), fuhren am Abend Rubi ins «Winterquartier», packten unsere Siebensachen im Eiltempo, wurden von Vivi und Damian mit herrlichen, selbstgemachten Empanadas und dem spontan gebackenen Geburtstagskuchen verwöhnt und stiessen mit ihnen auf den Geburtstag von Sophia an.
Am Donnerstag 19.3. um 7Uhr wurden wir von unseren Gastgebern zum Flugplatz gebracht und um 12Uhr hoben wir in Buenos Aires ab via Sao Paulo nach Paris und von dort über Amsterdam nach Basel. So glaubten wir wenigstens, denn in Paris vernahmen wir, dass der Flug von Amsterdam nach Basel in der Zwischenzeit annulliert worden war. Also wieder auf zum Transitschalter für die erneute Umbuchung – an vielen Menschen mit Gesichtsmasken vorbei und durch riesige, gespenstisch leere Hallen. Die Unterstützung, die wir vom Personal für den Weiterflug bekamen, war dann schlichtweg phänomenal: Mit dem allerletzten Linienflug gelangten wir am Freitagnacht 19.3. von Paris nach Zürich, wo uns Judith erwartete und uns mit den wichtigsten Nahrungsmitteln versorgt nach Tschamut brachte in unsere Selbstquarantäne. Und so nahm der erste Teil unserer Reise ein abruptes, frühzeitiges Ende.
PS: Während den 6 Monaten haben wir einige «Overlander» kennengelernt und Kontaktdaten mit ihnen ausgetauscht. Viele hofften, in einer wenig bevölkerten Gegend oder auf einem schönen Campingplatz den Virus aussitzen zu können. Alle wurden von der Dynamik der Ereignisse überrollt: Die Einheimischen haben Angst und machen die Touris für den Ausbruch der Epidemie verantwortlich. Die Behörden haben denn auch schon die Bevölkerung aufgefordert, Touris, die sie auf der Strasse antreffen, der Polizei zu melden. Provinzgrenzen wurden geschlossen, rigide Ausgangssperren verhängt, Gäste aus den Hotels auf die Strasse gestellt und Campingplätze geschlossen. Auch wurden Touris von der Polizei verhaftet und erst nach Intervention ihrer Botschaft wieder freigelassen. Oder die Polizei ist mit Krankenwagen auf dem Campingplatz aufgefahren und hat kontrolliert, ob jemand Fieber hat. Unsere schlimmsten Befürchtungen wurden wahr. Was, wenn die Angst in offene Aggression und Zerstörung umschlägt? Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Virus könnten deshalb wesentlich grösser und nachhaltiger sein als der wirtschaftliche und gesundheitliche Schaden. Wir jedenfalls können jetzt erahnen, wie es ist, auf der Flucht zu sein…
All jenen, die noch auf die Rückführung in die Heimat warten, drücken wir ganz fest die Daumen.
PSS: In der Krise zeigen sich aber auch wunderbare Begegnungen: ein riesiger Dank an all die Menschen, die ihre Stellungen halten und in diesen Zeiten viel mehr tun als nur «business as usual» und uns weitergeholfen haben.