Von Berbern und Tuaregs und ihrer spannenden Kultur
Der Zauber von Marrakesch trägt einen Namen: Die Medina. Sie gleicht einer mittelalterlichen Stadt innerhalb von intakten Stadtmauern: im Zentrum liegt der Souk mit den Händlern. Da bekommt man alles, was man für den Alltag so braucht: von Lebensmitteln, über Schmuck bis zu Teppichen und Kleidern. An der Peripherie, also entlang der Stadtmauer, befinden sich die Handwerker: die Tischler, Schreiner, Sanitär, Gerber, Metallbearbeiter, Werkzeugmacher, etc. Hier scheint alles wiederverwendbar und reparierbar zu sein. Und wo Touris sind, sind natürlich auch Restaurants, Gaukler und Taschendiebe. Findet übrigens ein Touri bei einem Verkäufer nicht, was er sucht (oder vorgibt, es nicht zu finden), gibt der nicht auf, sondern «hilft» bei der Suche und kassiert im besten Fall Provision vom anderen Verkäufer. Ein spannendes Erlebnis.
Hilfe wird einem immer angeboten, ob gefragt und nicht. Es fragen dich alle nach deinem Ziel und versprechen dir, dich dorthin führen. Trau aber keinem😊, denn er führt dich in seinen Laden, beziehungsweise dorthin, wo er Provision kassieren kann. Uns ist das passiert bei einem Teppichhändler, weil wir unsere Fährbekanntschaft (Marc und Liliane) nicht alleine lassen wollten und sie begleiteten. Letztendlich haben nicht sie einen Teppich gefunden und gekauft, sondern wir! 😂. Das Feilschen hat sehr Spass gemacht. Wir haben, was wir wollten zu einem vernünftigen Preis. Und der Händler ist auch zufrieden und muss nicht am Hungertuch nagen😊.
Hollywood in Marokko? Geht doch! Genauer gesagt in Ouarzazate: Ein intaktes und bewohntes Berberdorf (Ait-Ben-Haddou) dient als lebendige Filmkulisse. Gegenwärtig laufen die Vorbereitungen für Gladiator 2. Den werden wir uns dann im Kino ansehen! Aber nicht die Filmemacher bleiben uns in Erinnerung, sondern die Künstler, die an jeder Ecke der Medina sitzen und ihre Bilder malen. Erst sieht es aus wie alltägliche Strassenkunst. Lässt man sich aber auf einen der Künstler ein, erfährt man, dass es sich um eine uralte Technik für Geheimbotschaften zwischen Berbern und Juden handelt. Sie war gewissermassen das Whatsapp der Vorzeit. Als Farben wurden Safran, Zucker/Grüntee und Indigoblau verwendet und auf Tierfelle appliziert. Erst über dem Feuer entfaltete sich die Farbe und damit die Botschaft. Heute benutzen sie Papier und Bunsenbrenner für ihre Zeichnungen. Die Widmung von Abdu bedeutet übrigens «für Rubi» auf Arabisch und Berberisch, zwei komplett verschiedene Schriften. Berberisch wird nicht wie im Arabischen von rechts nach links geschrieben, sondern von links nach rechts wie bei uns. Wie unterschiedlich die Schreibweise ist, zeigt das Alphabet. Berberisch wurde übrigens erst in den 1990er Jahren offiziell anerkannt auf Veranlassung des aktuellen Königs Mohammed VI.
Das Filmbusiness hier ist jedenfalls prosperierend, das zeigt die Erschliessung von neuem Wohnraum ganz in der Nähe der Filmstudios. Die Marokkaner sprechen denn auch von «Ouarzawood» .
Wie abwechslungsreich die Landschaft ist, erleben wir jeden Tag: Dörfer, die an den Hängen «kleben», kleine Städtchen mit Arkaden an der Hauptstrasse, die zum Flanieren einladen, wüstenartige Ebenen, grüne Oasen, enge Schluchten, hohe Pässe (abenteuerlich, weil teilweise ohne Leitplanken), durch ausgetrocknete Flussbeete – manchmal mit einem wilden «Blumengarten», karge Hochebenen, terrassierte Gärtchen und kultivierte Felder. Schafsherden, die den kargen Boden nach Gras absuchen und Dromedare, die sich die Blätter von den vereinzelten Bäumen «pflücken». Mal liebliche Hügel, dann wieder schroffe Berghänge, deren senkrechte Aufschichtungen sich hervorragend für den Geologie-Unterricht eignen würden. Immer wieder in wunderbaren Farben und Farbtönen. Es ist schon toll, wie das Auge innert kurzer Zeit feinste Farbnuancen erkennen kann.
Die Strassen sind in erstaunlich gutem Zustand. Eigentlich braucht man hier kein Allradfahrzeug. Die vielen Telecommasten sorgen zudem für eine gute Abdeckung. Ab und zu sind auch Solarpanels auf den Dächern installiert.
Der Kultur kann man fast nicht «ausweichen» 😉: Die Kasbahs, die sich immer wieder als Statussymbole erweisen für ihre Macht und ihren Reichtum, mit wunderbaren Innenräumen und einer Architektur, die den Schutzbedarf nach aussen dokumentiert. Oder die Koranschule in Marrakesch, die Moslems aus der ganzen Welt zum Studium des Korans anzog.
Ein spezielles Erlebnis war der Besuch der Speicherburg «Agadir Tasquent». Ohne unsere Voranmeldung warten bereits zwei Berber auf unser Eintreffen für eine Führung. Wahrscheinlich wurden sie vorgewarnt, als wir etliche Kilometer vorher auf die Zufahrtsstrasse eingebogen sind 😊. Es ist eine veritable Burg, 1050 Jahre alt. Sie bietet 336 Familien je eine nummerierte und abschliessbare Zelle als Lagerraum für alles Wichtige an Lebensmittelvorrat, für Schmuck und die Heiratsurkunden. Es sieht aus wie ein vorzeitliches Hochregallager. Zugang wurde durch eingemauerte Felsplatten ermöglicht – und das ohne ein Geländer in der ganzen Burg! Dabei kann man jederzeit 5 Meter abstürzen. Ein Mitarbeiter der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) würde da sofort einen Herzinfarkt erleiden und ernsthaft am Sinn seiner Arbeit zweifeln. Die Speicherburg wird gegenwärtig restauriert und soll UNESCO-Weltkulturerbe werden.
Zu übernachten «in the middle of nowhere» hat auch seinen Reiz: In der Wüste unter einem schönen Baum, weit weg von Dörfern und von Lärm. Oder auf einer Hochebene (1850 Meter), wo wir eine kleine Berbersiedlung mit Höhlen auf der Bergkuppe entdecken. Was die sorgfältig konstruierten Steinkreise wohl bedeuten? Am Morgen wecken uns zwei grosse Schaf- und Ziegenherden. Sie sind auf der täglichen «Fressrunde». Die Schäfer, die wahrscheinlich in den Höhlen übernachtet haben, grüssen uns freundlich. Die Genügsamkeit und die Gemächlichkeit dieser Menschen ist beeindruckend.
Unsere Route führt uns im Süden auch durch das Zentrum des Safrananbaus. Auf unserem Mittagsplatz finden wir sogar noch eine Safranblüte. Sie blühen im Oktober und November und müssen am 1. Tag der Blüte wegen der Sonneneinstrahlung in den frühen Morgenstunden von Hand geerntet werden. Wir wissen jetzt, warum Safran so wertvoll ist 😉.
So nebenbei besuchen wir auch ein Kunstprojekt, das ein Belgier vor 40 Jahren realisiert hat: Er bemalte er kahle Felsbrocken mittels 20’000 Tonnen Naturfarbe aus Ägypten. Weil die Naturfarbe verblasste, wird nun jedes Jahr mit Industriefarbe nachgeholfen. Die Wirkung, die die unterschiedlichen Farben in der Natur bewirken, ist erstaunlich.
Äusserst aufschlussreich war auch eine Führung durch eines der alten Berberdörfer. Die Häuser sind nahtlos aneinandergebaut und durch Tunnels miteinander verbunden. Ein zentrales Eingangstor wurde bewacht und nachts geschlossen. Ein Haus selbst hat nur Tageslicht über einen Innenhof. Dort lebten auch die Tiere der Familie im Parterre. Abdellah, unser Fremdenführer, zeigt uns das Haus seines Grossvaters. Es hat zwei Etagen, denn er hatte 2 Frauen und damit 2 Familien. Jede hatte Anrecht auf einen Stock. Die Küche wurde von allen gemeinsam genutzt. Viel Platz gab es nicht pro Familie: Eine kleine Kammer für die vier Kinder und eine grössere Kammer für die Eltern. Zwar mit Teppichen und Decken versehen, aber ohne Türen. Komfort und Privatsphäre sehen anders aus. Aus den Türrahmen, Tunnels und Korridore zu schliessen, wurde für sehr kleine Menschen gebaut. Die Architektur ist genial und die Bauweise aus Palmenstämmen, Lehm und Stroh äusserst nachhaltig, aber sie lässt keine Anpassung weder an die Körpergrösse noch an den Komfort zu. Wer es sich leisten kann, baut ein neues Zuhause. Die Tunnels werden von den «Neu-Dörflern» immer noch genutzt als Rückzug für die Siesta während des Sommers. Dort ist es angenehm kühl, verglichen mit den 50 Grad draussen.
Von Abdellah bekommen wir auch einen Eindruck, wie hart das Leben vieler Marokkaner und Berber ist: Er bewohnt mit seiner Familie (5 Kinder), seinem Bruder und seiner Mutter ein Haus im neuen Teil und lebt von der Witwenrente seiner Mutter, die von der Pension seines Vaters in Frankreich stammt. Nach dem Tod seiner Mutter wird sein Einkommen nicht mehr ausreichen zum Leben. Es gibt weder genügend ausreichend bezahlte Arbeit noch Familienzulage, Arbeitslosengeld oder Altersvorsorge. Dies alles erhalten nur Beamte beziehungsweise Angestellte von sehr grossen Firmen. Der Rest der Bevölkerung geht leer aus. Ohne Almosen (als eine der Säulen des Islam) wäre das Leben für Viele noch viel härter, als es ohnehin schon ist.
Das Durchschnittseinkommen eines Marokkaners beträgt nur 250 Euro pro Monat! Da erstaunt es nicht, dass viele Junge keine Perspektive mehr sehen in ihrem Heimatland und in Europa arbeiten wollen. Mit dem Prinzip Hoffnung nehmen sie das grosse Risiko der Reise auf sich. Die hohen Kosten für die Reise werden vom Gesparten der Familie gedeckt.
Wer hier bleibt, versucht, mit List und Charme ein wenig vom Tourismus-Geldsegen zu ergattern: Auf dem Campingplatz in Marrakesch wartet jeden Tag ein traditionell gekleideter Berber auf seinem Schimmel, um als Fotomodell ein paar Dirhams zu verdienen. Oder der Verkäufer, der Kamele aus Selbstklebefolien ausschneidet und auf dem Camping Käufer für diese Sticker sucht. Er fertigt sie nicht nur in schwarz an, sondern auch in blau. Und nicht nur eines, sondern eine ganze Kamelfamilie. Man kann sogar wählen, ob sie von links nach rechts oder umgekehrt gehen sollen. Sehr originell. Wer kann da widerstehen? 😊
Unterwegs mit dem Rubi wurden wir sogar von einem Strassenverkäufer über den Tisch gezogen: An einer Abbiegung in eine Nebenstrasse veranlasst er uns, anzuhalten und das Fenster herunterlassen für ein Gespräch. Das war schon ein Fehler: Er ködert uns mit einem kleinen «Mineralien»-Stein, ersetzt ihn dann sofort durch einen grossen, legt ihn uns unaufgefordert auf die Knie und will 400 Dirham dafür. Der sei sehr wertvoll und ein Unikat (wobei es diese Steine zu Tausenden auch sonst zu kaufen gibt. Unser Steinexperte zu Hause wird uns sagen, wieviel davon überhaupt «natürlich» ist😊). Um Ruhe zu haben, kaufen wir den grossen für 100 Dirham, was etwa 10 Franken entspricht. So arm, wie er uns vorgegaukelt hat, kann er nicht sein, denn er ist danach mit seinem Auto weitergefahren auf der Suche nach weiteren «Opfern» 😊
Bei einer Berberhochzeit wird das ganze Dorf dazu eingeladen. Das konnten schon mal 1200 Menschen sein, die während der drei- bis viertägigen Hochzeit verpflegt werden mussten. 2 Kühe und etliche Hühner mussten dran glauben. Eine äusserst teure Angelegenheit. Erst nach der Hochzeit durfte die Keuschheit der Braut «geprüft» werden. Konnte der Beweis nicht geliefert werden, wurde sofort geschieden und die ganzen Ausgaben waren für die Katz.
Die Gewänder der Berberfrauen sind übrigens viel farbenfroher als jene der Araberinnen. Die Tuareg wiederum erkennt man häufig an den blauen Gewändern beziehungsweise am blauen Turban.
In der südwestlichsten Ecke von Marokko – in Guelmim – findet jeden Samstag der traditionelle Kamelmarkt statt, wo Tuareg sogar von der mauretanischen Grenze herkommend ihre Produkte anbieten. Es ist wirklich alles zu haben, was «man» in Marokko so braucht. Früher wurden hier Tausende von Kamelen und Dromedaren angeboten. Heute sind es noch wenige, denn ihre Transportkapazität wurde mit der Zeit durch Lastwagen ersetzt. Daneben gibt es auch Schafe, Ziegen, Hühner, Hasen und Esel zu kaufen. Der Esel hat immer noch seine Transportfunktion als Last- und Reittier oder als Karrenzieher.
🐪Ja, ich bin eines davon, ein 15 Jahre altes Männchen, das verkauft werden soll. Ich habe gerne posiert für Fotos und Portraits. Man bekommt nicht jeden Tag die Gelegenheit, als Fotomodell zu dienen. Konnte ich deshalb nicht verkauft werden?. Ich bin mit 20’000 DH (2000 CHF) jedenfalls nicht billig. Man hat doch seinen Preis und Stolz 😊. Meine Chefs haben die Fotografen denn auch ganz klassisch «eingewickelt» mit Tee und Schmuus. Die konnten gar nicht mehr anders, als ein wenig Schnickschnack zu kaufen für einen Touripreis 😉. Ich glaube, am Ende waren wir – meine Chefs, meine neuen Schweizer Freunde und ich – sehr zufrieden mit dem Ergebnis😊.
Einkaufszentren gibt es nur in den grossen Städten. Produkte für den Alltag gibt es in den vielen kleinen «Tante Emma»-Läden oder auf dem Souk. Als Fremde (ohne viele andere Touris) in das geschäftige Treiben der Einheimischen einzutauchen, die Präsentation der Lebensmittel zu bewundern und Früchte und Gemüse selbst zu kaufen, ist jedes Mal ein tolles Erlebnis. Wir wundern uns immer wieder über die Unmengen an Zwiebeln, die angeboten werden – und begegnen ihr (der Zwiebel) jedenfalls immer als Gemüse beim Nachtessen einer Tajine…
Mittlerweile ist auch der Ramadan zu Ende gegangen. Es gibt am Morgen wieder frisches Brot zu kaufen – und nicht erst am Mittag, weil der Bäcker später mit der Arbeit beginnt. Wir haben jedenfalls die muslimische Fastenzeit problemlos überstanden. Das Ende des Ramadan feiern die Einheimischen in ihren Sonntagsgewändern. Auch die Kleinsten werden herausgeputzt. Wir dürfen das Schauspiel beobachten in Asilah, einer kleinen Stadt am Atlantik mit wunderbarer Medina innerhalb von intakten Stadtmauern. Die Stadt ist touristisch auch bekannt wegen seiner Graffiti. Sie ist sehr untypisch für ein muslimisches Land, denn der Koran erlaubt keine Darstellungen von Menschen. Die Zeichnungen sind auf ihre Art eine Provokation. Dies ist ein schöner Abschluss unserer Rundreise durch Marokko.
«Nun ist die Reise wirklich zu Ende und der Blog fertig«, so dachten wir, als wir die Ausreiseformalitäten im Hafen von Tanger ohne Probleme erledigt hatten. Als allerletzte «Schikane» musste unser Rubi noch durch den grossen Scanner, was wir als mittlerweile Reiseerfahrene cool beobachten. Als uns bei der anschliessenden Schlusskontrolle die Polizisten baten, die Kabine zu öffnen, ist dies für uns auch nichts Neues, denn manche wollen einfach sehen, «wie es da drin aussieht» 😊. Hinein gingen zwei, heraus kamen drei ☹. Wir dachten erst an einen Scherz oder an eine versteckte Kamera – wo wir doch die Kabinentüre immer abschliessen. Aber NEIN: ein junger Marokkaner war über das schmale Badzimmerdachfenster eingestiegen. Er wollte als blinder Passagier mit uns nach Europa. Es muss auf der letzten Raststätte passiert sein. Nach der ersten Empörung unsererseits und der Frage, warum er das gemacht hätte, hat der arme Kerl nur die Schultern gezuckt: «Ich habe keine Zukunft hier und will weg». Trotz Reparatur, die jetzt fällig ist, hoffen wir, dass der junge Mann nicht ins Gefängnis gesteckt wird. Er wird es sicher bei nächster Gelegenheit wieder versuchen…
Nun sind wir aber definitiv bereit für die Rückreise.
Auf Wiedersehen, Marokko, und vielen Dank für die Gastfreundschaft.
وداعا المغرب وشكرا على حسن الضيافة